02.11.2021 | 09:50

Marcel Siem: „Habe aufgehört, mich in der Opferrolle zu sehen“

Marcel Siem
Thomas Fischbacher
Thomas Fischbacher

Formhoch. Im Interview spricht Marcel Siem über den sportlichen Aufschwung und darüber, was in der schwierigen Zeit davor passiert ist.


Emotionale Szenen spielten sich ab nach Marcel Siems Sieg bei der Vaudreuil Golf Challenge. Der Deutsche nahm mit seiner Tochter an der Seite mit feuchten Augen den Siegerpokal entgegen, den ersten seit 2014. Der Erfolg im Norden Frankreichs war nicht nur ein wichtiger Schritt zurück in Richtung Karte für die European Tour, sondern sicherte Siem auch eine Einladung nach Royal St. Georges.

In England meldete sich ein mit vier European-Tour-Siegen dekorierter Spieler für einen Moment zurück auf der Major-Bühne und verzauberte die Fans mit seiner positiven Ausstrahlung. Vor einigen Jahren stand Siem noch auf dem Sprung unter die besten 50 der Welt, verlor aber den Schwung und die Tour-Karte.

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Es folgten schwierige Jahre – gesundheitlich wie mental. Siem dachte kurz ans Aufhören, rang sich aber dazu durch, den steinigen Weg zurück anzutreten. Ein Gespräch über Selbsterkenntnis, das richtige Umfeld und wichtige Details bei der Arbeit am Golfspiel.

Das Interview erschien im GOLF TIME Magazin 6/2021.

Werfen wir einen Blick zurück: Als Sie sich durch den Sieg in Frankreich für die Open qualifiziert haben, wussten Sie zunächst nicht, ob Sie überhaupt antreten wollen. Was war entscheidend dafür, die Einladung anzunehmen.

Mein Team und ich haben einen ganz klaren Plan. Ich gehöre aktuell spielerisch auf die Challenge Tour. Aber klar, nach einigen guten Ergebnissen und meinem Sieg in Frankreich habe ich mich sehr gut gefühlt. Entscheidend für meine Zusage war für mich die Tatsache, dass zehn Prozent des Preisgeldes auch für das Ranking gezählt haben.

Haben Sie bei der Open während der Einspielrunden schon gemerkt, dass das eine besondere Woche werden könnte?

Nicht wirklich, ich habe am Mittwoch eine Proberunde mit Martin, Marcel und Matti Schmid gespielt und habe gar nichts getroffen. Die Anreise war anstrengend und dieser Platz ist wirklich schwierig einzusehen. Vom Abschlag sieht man oft nur hohes Rough und Topfbunker.

Zum Glück habe ich meinen ehemaligen Stamm-Caddie Guy Tilston noch für die Woche verpflichtet, der kannte den Platz sehr gut und hat mir gezeigt, wo es langging.

Und ab Donnerstag ging die Post ab.

Zum Glück, der Schwung kam zurück, ich habe die ersten Fairways getroffen, Putts gelocht, dann kamen auch die Zuschauer. Das hat so viel Spaß gemacht. Ich habe zu Guy gesagt, ich hätte mich verändert, wäre nicht mehr so hart zu mir auf dem Platz. Linksgolf war nie meine größte Stärke.

Oft ist es kalt und immer dick eingepackt mit Pudelmütze Golf zu spielen, das liegt mir nicht zu 100 Prozent. Aber grundsätzlich bin ich ein Spielertyp, dem dieses Golfspiel zugutekommt. Ich kann alle Schlagvarianten – hoch, flach, Rechtskurve, Linkskurve. Zum Glück hat auch das Wetter mitgespielt. Es lief in dieser Woche vieles zusammen.

Wieder in der Spur. Marcel Siem hat Spaß beim Deutschlandfinale der MercedesTrophy im Öschberghof
Wieder in der Spur. Marcel Siem hat Spaß beim Deutschlandfinale der MercedesTrophy im Öschberghof

Vor dem sportlichen Aufschwung stand sogar ein Karriereende kurzzeitig im Raum. Wie weit weg fühlt sich das jetzt an nach den jüngsten Erfolgen?

Ich habe noch immer eine gewisse Unsicherheit und bin sehr demütig. Aber der Gedanke ans Aufhören ist nur ganz kurz aufgeflackert und jetzt ist das Thema durch. Ich weiß zwar noch sehr genau, durch was für ein Tal ich gegangen bin, aber gleichzeitig ist da auch diese unglaubliche Motivation, unter den neuen Voraussetzungen step-by-step richtig durchzustarten.

Was genau ist passiert?

Einerseits war da natürlich mein Golfspiel, aber es gab auch privat einige Dinge, die ich aufarbeiten musste. Mein Team hat mir dabei sehr geholfen. Mein Performance-Coach Holger Fischer auf der mentalen Seite und auch Dirk Schimmel, mein Manager, der sich um einige andere Dinge gekümmert hat.

Bei mir waren einige Türen verschlossen und ich habe nicht mehr gewusst, wie ich sie wieder aufbekomme. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, aber es gab einfach Probleme, für die ich keine Lösung mehr gefunden habe. Daher bin ich sehr dankbar, dass ich auf diese Unterstützung setzen konnte.

+++Mehr zum Thema: Marcel Siem: „War wirklich wütend…“

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Wie kam die richtige Einstellung zurück?

Ich habe gelernt, dass ich für alle Dinge selbst verantwortlich bin. Klar gibt es äußere Einflüsse, aber im Endeffekt habe ich die Macht und die Kontrolle darüber, dass alles glatt läuft.

Ich habe aufgehört, mich in der Opferrolle zu sehen und angefangen, dankbar zu sein für den Job, den ich ausüben darf. Aber damit das funktioniert, braucht man natürlich auch die Erfolgserlebnisse.

Wie sehr hat Sie die Corona-Auszeit belastet?

Das war ein Schock. Ich schaue ja nicht viel Golf im Fernsehen, aber als ich die Jungs dann habe spielen sehen, während ich selbst nichts machen konnte, das war auch ein Augenöffner.

Da ist mir klar geworden, in was ich mich da reinmanövriert hatte. Ich konnte kein Turnier spielen, hatte keine Sponsoren; da ruhig zu bleiben, war wahnsinnig schwer.

Holger und Dirk haben mir dann auch den Druck genommen und mir Licht am Ende des Tunnels gezeigt. Es war auch finanziell nicht so einfach, sich auf einmal einzuschränken, wenn die Einnahmen komplett wegbrechen. Ich weiß nicht, ob ich das ohne die Hilfe meines Teams wieder auf die Kette bekommen hätte.

„Ich wusste gar nicht mehr wirklich, wie sich mein
natürlicherSchwung überhaupt anfühlt“

Ein Gutes hatte die Corona-Zeit: Sie haben das MMA-Fighting für sich entdeckt.

Ja, dafür bin ich sehr dankbar. Paul Götte macht mit mir via Face Time ein sensationelles Training. Das Gute am Mixed-Martial-Arts ist ja, dass die Muskeln beider Körperhälften gleichermaßen beansprucht werden. Das ist eine Routine geworden. Wenn es darum geht, ins Gym zu gehen, fehlt es mir ab und an an Motivation.

Aber der Termin mit Paul steht, den möchte ich nicht sitzen lassen, das gibt mir so viel positive Energie. Vor allem auch, wenn man ein bisschen down ist. Auch meine Fitness hat sich natürlich enorm verbessert.

Wie kam der Golf-Schwung zurück?

Mit Andre Kruse habe ich mich auf die Suche nach meinem alten Schwung begeben und ihn zum Glück auch wiedergefunden. Andre kennt mich noch aus Nationalmannschafts-Zeiten, wir haben uns Videos angeschaut und langsam ging es aufwärts. Nach den ganzen Umstellungen und Schmerzen wusste ich gar nicht mehr wirklich, wie sich mein natürlicher Schwung überhaupt anfühlt.

Ich hatte nie die weltbeste Technik, aber enormes Vertrauen in meinen Schwung. Ich wusste, wo das Schlägerblatt steht und konnte mich auf die Bewegung verlassen. Jeder Körper ist anders, mit diesem Fundament sollte man arbeiten und keine gravierenden Veränderungen vornehmen. Das habe ich für mich gelernt.

Was genau wollten Sie damals verändern?

Eigentlich nur an meinem Wegnehmen arbeiten, das hatte ich mit meinem damaligen Team besprochen. Weniger Unterarmrotation und eine geringere Öffnung der Schlagfläche. Danach kamen immer mehr Details hinzu. Leider bin ich jemand, der sich zwei Monate auf die Range stellt und Tausende Bälle schlägt.

Die Folge waren Schulterschmerzen und schlimme Pull-Hooks, weil sich das neue Wegnehmen nicht mit dem alten Release vertragen hat. Es ist mir enorm schwer gefallen, das wieder loszuwerden und wieder auf mein Gefühl zu vertrauen. Jetzt bin ich zum Glück wieder auf dem richtigen Weg.

Info: www.marcel-siem.de

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